DIE DISTELN AUF DER BLUMENWIESE

Was Blumen, Kräuter und Heilpflanzen uns lehren können

Die Tradition mit Pflanzen zu heilen, reicht bis in die früheste Menschheitsgeschichte zurück. Unsere Vorfahren nahmen die Pflanzen als lebendige, beseelte Wesen wahr und vertrauten auf ihre heilsame Wirkung auf Körper, Geist und Seele. So öffnet uns z.B. die intensive Beschäftigung mit der Natur – den Pflanzen und Tieren – neue Blickwinkel, neue Erkenntnisse. Sie wirken daher nicht nur auf den Körper, sondern auch auf unseren Geist und unsere Seele. Wir nehmen anders wahr, lernen wieder demütig zu sein – und vielleicht lehrt uns die Natur auch etwas über Toleranz.

Eine Parabel von Mag. Heidi Friedberger, Geschäftsführerin der Akademie für Naturheilkunde und Co-Autorin des Buches „Spirituelle Pflanzenheilkunde“.

Auf den Hängen einer bunten Sommerwiese in einem lieblichen Tal blühten unzählige Blumen und Kräuter in allen nur erdenklichen Farben.
Die Sonne schien warm und jeder, der des Weges kam und sein Herz öffnete, konnte die Vielfalt sehen. Wenn er die Augen schloss und tief einatmete, konnte er das Aroma der ätherischen Öle riechen und an seine Seele streifen lassen. Und wenn er genau hinhörte, dann war da nicht nur das emsige Summen und Brummen der Bienen, Hummeln und anderer Insekten zu hören, sondern vielleicht auch das Wispern der Blumen.

Während sich bunte Schmetterlinge ihren Nektar suchten, kam ein Mädchen des Weges. Behutsam pflückte es

Margeriten, Glockenblumen, die Blüten des Frauenmantels, Trollblume, Wiesennelken, Mohnblumen und Gräser. Sie hatte schon ein ansehnliches Sträußchen beisammen und lächelte versonnen. Soeben entdeckte das Kind ein besonders schönes Exemplar einer duftenden Baldrianblüte und wollte gerade danach greifen, als es einen schmerzerfüllten Schrei ausstieß. Das Mädchen umklammerte fest ihren Strauß, den es im Schreck fast fallengelassen hätte und lief weinend davon. An einer stacheligen, kratzigen Distel hatte es sich die zarten Finger blutig gestochen.

Die anmutigen Blumen steckten empört ihre Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt: „Diese garstigen Disteln. Sie sollten sich schämen. Bringen nur Schmerz und Trauer und stören absichtlich die friedliche Atmosphäre hier auf der Wiese, die die Menschen so schätzen. Sie passen so gar nicht zu uns.“ Eine besonders schöne Wiesen-Flockenblume tat sich hervor und machte sich zum Anführer: „Wir sollten uns zusammentun und diesen Kratzbürsten klarmachen, dass sie hier nicht erwünscht sind.“
Die Disteln hörten dies und versuchten sich ganz klein zu machen und in die Erde zu ducken. Manche aber hatten einen so stattlichen Wuchs, dass ihnen das kaum gelingen wollte. Ihnen war klar, dass sie mit ihrer rauen Haut mit dem Liebreiz und der Schönheit der blühenden Blumen und duftenden Kräuter nicht mithalten konnten. Sie waren auch wirklich zu nichts nutze. Nicht einmal Insekten wollten sich recht auf ihnen niederlassen. Sie boten kaum Nektar und wer an ihnen anstreifte konnte nur mit Schmerzen rechnen. Nein, es war kein leichtes Leben als Distel unter Sommerblumen. Sie waren und blieben das hässliche, stachelige Unkraut. Wozu nur hatte der liebe Gott sie in diese prachtvolle Wiese gepflanzt? Ein tiefes Seufzen ging durch die Disteln.

Am nächsten Morgen mühte sich ein alter Mann den ste

ilen Wiesenhang hinauf. Immer wieder hielt er inne, schaute um sich, atmete tief ein und bückte sich alsdann, um etwas in seinen Korb zu geben. Die hübschen Blumen streckten sich ihm erwartungsvoll entgegen, um sich von ihrer schönsten Seite zu zeigen. Die Disteln hingegen duckten sich verschämt  und versuchten ihre Stacheln einzuziehen. Der Mann aber hatte ein Messer dabei. Behutsam schnitt er Distel um Distel aus dem Erdreich und sprach dabei zärtlich von seiner kranken Frau. Es war, als ob er den Disteln all seine Sorgen und Ängste anvertrauen wollte. Für die Schönheit der anderen Blumen hatte er kaum Augen. Dabei erfuhren die Pflanzen folgendes: Ein alter Heilkundiger, der weit hinten im Tal, ganz einsam in einer Hütte lebte, hatte ihm geraten ganz spezielle Disteln aus dieser Gegend zu sammeln und seiner Frau Tee und Umschläge davon zu bereiten. Sie hätten eine ganz besondere Heilwirkung, die den wenigsten Menschen bekannt war.

Vorsichtig erntete der Mann Distel um Distel und bedankte sich bei jeder Einzelnen, die er achtsam von der Erde trennte, so dass noch genug Wurzel übrigblieb, um im nächsten Jahr wieder austreiben zu können. Neidvoll hörten die Blumen zu und zogen gekränkt ihre Köpfchen zurück. Wer hätte das gedacht. Wo sie es doch waren, denen Aufmerksamkeit gebührte. Sie waren doch so farbenprächtig, duftend und betörend. Und nun sollten diese kratzbürstigen, stacheligen, unansehnlichen Dinger so etwas  wie Heilkraft besitzen und vielleicht sogar Leben retten? Die Disteln aber, ganz benommen vor Glück, streckten sich erfreut seinen rauen Händen und dem scharfen Messer entgegen. Endlich hatte jemand erkannt, dass auch sie besondere Fähigkeiten hatten. Dafür gaben sie sich gerne hin.

Die Blumen schluckten ihren Neid hinunter und akzeptierten von da an, dass auch die stechenden Disteln Teil ihrer Gemeinschaft waren und nicht alles Gute und Schöne auf den ersten Blick erkennbar war. Es gab kein böses Wort mehr gegen die Disteln, die nun stolz ihr Haupt gen Himmel streckten. Alles was hier wuchs oder krabbelte durfte die Welt auf seine Weise erfreuen. Und das war gut so.

BUCHTIPP:

Spirituelle Pflanzenheilkunde: Wesen der Pflanze, Traditionelle Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse.